Alltägliche Mobilitätsbarrieren für Menschen mit Gehbeeinträchtigungen in Potsdam

Nicht erst die Berichterstattung über die Gewalttat vom 28.04.2021 , bei der vier Menschen mit Behinderung auf grausame Weise im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam Babelsberg getötet wurden,



Nicht erst die Berichterstattung über die Gewalttat vom 28.04.2021, bei der vier Menschen mit Behinderung auf grausame Weise im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam Babelsberg getötet wurden,

hat verdeutlicht, dass Menschen mit Behinderung nicht nur in Potsdam strukturelle Diskriminierung erfahren. Da in den Medien primär vermeintliche Expert*innen konsultiert werden und so die Perspektive von Menschen mit Beeinträchtigung häufig zu kurz kommt, möchten wir an diesem Punkt mit unserer Forschungsarbeit anknüpfen und ihre Perspektive auf einen wichtigen Bereich struktureller Diskriminierung aufzeigen: die Barrierefreiheit. Ziel war es zu untersuchen, inwiefern Mobilitätsbarrieren die Selbstwahrnehmung von erwachsenen Menschen mit Gehbeeinträchtigungen und ihre soziale Vernetzung beeinflussen. Hierzu interviewten wir im Spätsommer und Herbst 2020 vier Potsdamer*innen mit Gehbeeinträchtigung, die auf die auf Hilfsmittel (Rollator, Rollstuhl) angewiesen sind. Dieser Blogbeitrag fasst unsere Ergebnisse zusammen.


Forschungsfrage

Inwiefern beeinflussen Mobilitätsbarrieren die soziale Selbstwahrnehmung von erwachsenen Menschen mit Gehbeeinträchtigungen und ihre soziale Vernetzung?

Datenmaterial

4 leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews (Witzel 2000)

Sample

Ein Mann und drei Frauen, zwischen 25 und 45 Jahren, seit mindestens 7 Jahren eine Gehbeeinträchtigung mit Hilfsmitteln (Rollstuhl und Rollator) 

Auswertungsmethode

Offenes, axiales und selektives Codieren (Witzel 2000)

Zeitraum

April 2020 bis März 2021

Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass Mobilitätsbarrieren die soziale Vernetzung der von uns Befragten stark beeinflussen. In Momenten, in denen sie sich mit Mobilitätsbarrieren konfrontiert sehen, kommt es regelmäßig zur Interaktion mit Fremden, die um Unterstützung gebeten werden. Diese Interaktionen bergen das Potential zum Knüpfen von Kontakten. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Verbindung mit dem persönlichen sozialen Netzwerk gestärkt wird, indem Familie und Freunde zu zentralen Begleitpersonen werden. Auch wird diese Form der Unterstützung von den Interviewten als natürlich und meist hilfreich wahrgenommen. 

„Also, wenn ich irgendwo bin, ist sowieso immer jemand dabei, alleine bin ich nirgendswo.“ (Dani, 27, Rollstuhl)

Gerade die Unabhängigkeit bzw. Selbstständigkeit liegt den Interviewten am Herzen. Planung von Mobilität spielt dabei eine ambivalente Rolle: Zum einen kann sie als Schlüssel für Unabhängigkeit dienen, z. B. wenn jemand beim Einstieg in ein öffentliches Verkehrsmittel auf keine fremde Hilfe angewiesen ist, indem sich vorher über die Barrierefreiheit des Bahnhofes und des Verkehrsmittels informiert wurde. Zum anderen kann Planung auch als Beeinträchtigung von Spontaneität im Alltag gesehen werden, da diese beispielsweise sehr zeitintensiv sein kann und man selbst abhängig von Informationsquellen ist. Dieser Zusatzaufwand durch Planung sowie der Zwang zu großer Flexibilität beeinträchtigen wiederum die soziale Selbstwahrnehmung der Befragten, weil ihnen dadurch aufgezeigt wird, dass sie in ihrer Mobilität nicht immer unabhängig und selbstständig sein können.

„Ich mach da nischt anderet als andere Leute. Also es sei denn, es ist ein fremder Ort […], dann guck ich mir vorher die Gegebenheiten an, ob ich da lang komme oder ob ich da nich langkomme. Ansonsten, so wie jeder andere och.“ (Anne, 41, Rollstuhl)

Aus dem Sondersystem (Sonderschulsystem, Berufsbildungswerke, Behindertenwerkstätten und -wohnheimen, etc.) resultiert für die Interviewten ein eingegrenztes soziales Netzwerk, da sie schon in der Schulzeit kaum Kontakt zu Menschen ohne Behinderungen hatten. Der Übergang aus dem Sonderbildungsweg wird auch dadurch nicht erleichtert, dass die Arbeitsmarktsituation beispielsweise durch den Kündigungsschutz verkompliziert wird. Die Sphären bleiben dadurch weiterhin getrennt, was zum Beispiel durch die Behindertenwerkstätten reproduziert wird. Auch auf dem ersten Arbeitsmarkt  kann die soziale Vernetzung mit Kolleg*innen durch fehlende Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und dem daraus resultierenden Zwang zum Homeoffice beeinflusst werden. 

„[I]ch habe Freunde, die wirklich in so Werkstätten sind und da irgendwie, keine Ahnung, schuften […] was einfach kein Anspruch ist, die haben eine Ausbildung gemacht, die wollen was […] Richtiges machen und nicht irgendwie, keine Ahnung, eine Beschäftigungstherapie oder so.“ (Barbara, 34, Rollator)

Diese Sphärentrennung bestimmt die soziale Selbstwahrnehmung, indem die Behinderung im Vordergrund steht und die jeweilige Person darauf reduziert wird: Obwohl sie sich selbst „normal“ fühlt, wird sie von anderen nicht so wahrgenommen. Ein Phänomen, mit dem sich auch das Konzept des Otherings  (De Beauvoir 1997) beschäftigt, welches durch Simone de Beauvoir geprägt wurde. Dieses beschreibt, wie soziale Gruppen Menschen ausschließen, um sich selbst aufzuwerten. Demnach spiegelt der Wunsch „normal zu sein“ das Bedürfnis marginalisierter Gruppen wider, nicht aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden.

„[J]eder sieht zuerst den Rollstuhl und nicht den Menschen, also oft. Ganz oft.“
(Chris, 33, Rollstuhl)

Egal in welchen Lebensbereichen, alltägliche Mobilitätsbarrieren schränken Menschen mit Gehbeeinträchtigungen nicht nur physisch ein, sondern wirken sich auch auf die soziale Vernetzung und die soziale Selbstwahrnehmung aus. Auch wenn physische Barrieren wie Treppen, Stufen, zu schmale Zugänge, das Fehlen von Fahrstühlen und barrierefreien Toiletten ein offensichtliches Hindernis darstellen, können besonders die Ignoranz und Unwissenheit nichtbehinderter Menschen wesentliche Barrieren für Menschen mit Gehbeeinträchtigung darstellen. Diese können wiederum zu einem indirekten Ausschluss aus Teilbereichen der Gesellschaft führen. Zwar entwickeln Personen mit Behinderung vielfältige Bewältigungsstrategien, um bestehende Probleme kompensieren zu können, jedoch sollte – dem sozialen Modell von Behinderung entsprechend – die Verantwortung für die Minimierung von Problemlagen nicht beim Individuum selbst, sondern bei der Gesellschaft liegen. 

„Also genau, um nochmal zusammenzufassen: Das Mitleid einerseits, das Arrogante andererseits […] und die fehlende Barrierefreiheit, das sind die drei Punkte, die mich extrem nerven, wenn ich unterwegs bin.“ (Chris, 33, Rollstuhl)

Aus diesem Grund appellieren wir als Forscherinnen insbesondere an die Stadt Potsdam. Wenn sich an den Slogan „EINE Stadt für ALLE“ gehalten werden soll, müssen gleiche Zugangsmöglichkeiten nicht nur in der Theorie und durch Gesetze, sondern auch in der Praxis umgesetzt und dabei die Perspektiven der Menschen berücksichtigt und mit einbezogen werden, die von Mobilitätsbarrieren betroffen sind. Nur so kann eine inklusivere Stadt entstehen.


Serafina Löber, Franziska Mehlhase & Angelika Wetzel
Name

Alexander Lenk,1,Aline Lupa / Isabella Kaul,1,Alltagsleben,1,Andreas Hofmann / Anna Westner / Marius Gerards,1,Angelika Wetzel,1,Angelika Wetzel / Serafina Löber,1,Anh Hoang,1,Anh Hoang / Christopher Fritz / Annina Morr,1,Anna Haar / Isabel Buchmann,1,Anna Haar / Maj-Britt Klages / Corinna Weiß,1,Anna Westner,1,Anne Haußner / Nele Damm / Laura Milda Weinheimer,1,Anne Haußner / Nele Damm / Melisa Meral,1,Annett Wadewitz,2,Antonia Leymann / Hannes Richter,1,Arvid Becker,1,Bundestagswahl 2021,3,Carolin Haselmann / Luise Graw / Julius Spreckelsen,1,Christopher Fritz / Carla van der Minde / Simeon Raban Dilßner,1,Claudia Buder,1,Claudia Buder / Annett Wadewitz,2,Daphne Kabaali,1,Denise Brosda,1,DX,1,Felicitas Rösch,1,Finja Carstensen / Julia Gräfe / Victorie Henning,1,Florian Fried,2,Franziska Mehlhase,1,Gerrit Prange,1,Helene Walther / Adrian Nehls,3,Ina-Berit Leuchs,2,Inge Pabel,1,Isabel Buchmann,1,Jeanne Handro,1,Johanna Kuchling-Pietrek,1,Joshua Bode / Lukas Zipris /Vanessa Oestert,1,Julia Zakusek / Chiara Osorio Krauter / Emily Quirmbach,1,Katarina Rönnicke,1,Kati Renard,1,Kevin Hanelt,1,Klara Hofmann,1,Kolja Grohmann,1,Lea Gudowski / Carla von der Minde / Niklas Kohl,1,Leandra Wagner,1,Lena Mau,1,Lennart Bugoslawski / Friederike Zimmermann,1,Lewin Fricke,1,Lisa Fritsch,1,Lucas Krentel,1,Luise Graw / Lea Gudowski / Niklas Kohl,1,Luise Graw / Niklas Kohl,1,Maj-Britt Klages / Marcel Maier / Melisa Meral,1,Marie Lauterbach,1,Marlene Jahn,1,Miriam Pospiech / Carolin Engelhardt / Aline Lupa / Isabella Kaul,1,Miriam Pospiech / Isabella Kaul,1,Naomi Gänsler,1,Nele Stärke / Lea Steinkopf,1,Nina Magdeburg,1,Noa Groicher,2,Phila Händler,1,Philipp Mandt,1,Rainer Niemann / Johannes Koberstein,1,RM,1,Roland Verwiebe,1,Seminargruppe 2020/21,1,Serafina Löber,1,Serafina Löber / Franziska Mehlhase / Angelika Wetzel,1,Simon Kuntze,1,Siri Handloegten,1,Siri Handloegten / Moritz Niessen,1,Tim Page,1,xAdrian Nehls,3,xAlexander Lenk,1,xAline Lupa,2,xAlltagsleben,22,xAmazon,3,xAndreas Hofmann,1,xAngelika Wetzel,3,xAnh Hoang,2,xAnna Haar,2,xAnna Westner,2,xAnne Haußner,2,xAnnett Wadewitz,5,xAnnina Morr,1,xAntonia Leymann,1,xArbeit,13,xArvid Becker,1,xAudio,4,xBildung und Kultur,12,xCarla van der Minde,2,xCarolin Engelhardt,1,xCarolin Haselmann,1,xChiara Osorio Krauter,1,xChristopher Fritz,1,xClaudia Buder,4,xCorinna Weiß,1,xDaphne Kabaali,1,xDenise Brosda,1,xDigitalisierung,22,xDX,1,xEmily Quirmbach,1,xFelicitas Rösch,1,xFinja Carstensen,1,xFlorian Fried,2,xFranziska Mehlhase,2,xFriederike Zimmermann,1,xGerrit Prange,1,xHannes Richter,1,xHelene Walther,3,xIna-Berit Leuchs,2,xInge Pabel,1,xIsabel Buchmann,2,xIsabella Kaul,3,xJacob Gustavs,1,xJeanne Handro,1,xJohanna Kuchling-Pietrek,1,xJohannes Koberstein,1,xJoshua Bode,1,xJulia Gräfe,1,xJulia Zakusek,1,xJulius Spreckelsen,1,xKatarina Rönnicke,1,xKati Renard,1,xKevin Hanelt,1,xKlara Hofmann,1,xKolja Grohmann,1,xLaura Milda Weinheimer,1,xLea Gudowski,2,xLea Steinkopf,1,xLeandra Wagner,1,xLehrforschung 2020,2,xLena Mau,1,xLennart Bugoslawski,1,xLewin Fricke,1,xLisa Fritsch,1,xLucas Krentel,1,xLuise Graw,3,xLukas Zipris,1,xLuna Schlender,1,xMaj-Britt Klages,2,xMarcel Maier,1,xMarie Lauterbach,1,xMarius Gerards,1,xMarlene Jahn,1,xMelisa Meral,2,xMiriam Pospiech,2,xMoritz Niessen,1,xNaomi Gänsler,1,xNele Damm,2,xNele Stärke,1,xNiklas Kohl,3,xNina Magdeburg,1,xNoa Groicher,2,xPhila Hädler,1,xPhilipp Mandt,1,xPolitik,14,xRainer Niemann,1,xRenteneintritt,2,xRM,1,xRoland Verwiebe,2,xSamuel Debbas,1,xSerafina Löber,3,xSimeon Raban Dilßner,1,xSimon Kuntze,1,xSiri Handloegten,2,xSteffen Hagemann,1,xTim Page,1,xVanessa Oestert,1,xVictorie Henning,1,xVideo,1,xWahlen21,3,
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Alltägliche Mobilitätsbarrieren für Menschen mit Gehbeeinträchtigungen in Potsdam
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