Nicht erst die Berichterstattung über die Gewalttat vom 28.04.2021 , bei der vier Menschen mit Behinderung auf grausame Weise im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam Babelsberg getötet wurden,
Nicht erst die Berichterstattung über die Gewalttat vom 28.04.2021, bei der vier Menschen mit Behinderung auf grausame Weise im Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam Babelsberg getötet wurden,
Forschungsfrage |
Inwiefern beeinflussen Mobilitätsbarrieren die soziale
Selbstwahrnehmung von erwachsenen Menschen mit Gehbeeinträchtigungen und ihre
soziale Vernetzung? |
Datenmaterial |
4 leitfadengestützte, problemzentrierte Interviews (Witzel 2000) |
Sample |
Ein Mann und drei Frauen, zwischen 25 und 45 Jahren, seit
mindestens 7 Jahren eine Gehbeeinträchtigung mit Hilfsmitteln (Rollstuhl und
Rollator) |
Auswertungsmethode |
Offenes, axiales und selektives Codieren (Witzel 2000) |
Zeitraum |
April 2020 bis März 2021 |
Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass Mobilitätsbarrieren die soziale Vernetzung der von uns Befragten stark beeinflussen. In Momenten, in denen sie sich mit Mobilitätsbarrieren konfrontiert sehen, kommt es regelmäßig zur Interaktion mit Fremden, die um Unterstützung gebeten werden. Diese Interaktionen bergen das Potential zum Knüpfen von Kontakten. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Verbindung mit dem persönlichen sozialen Netzwerk gestärkt wird, indem Familie und Freunde zu zentralen Begleitpersonen werden. Auch wird diese Form der Unterstützung von den Interviewten als natürlich und meist hilfreich wahrgenommen.
„Also, wenn ich irgendwo bin, ist sowieso immer jemand dabei, alleine bin ich nirgendswo.“ (Dani, 27, Rollstuhl)
Gerade die Unabhängigkeit bzw. Selbstständigkeit liegt den Interviewten am Herzen. Planung von Mobilität spielt dabei eine ambivalente Rolle: Zum einen kann sie als Schlüssel für Unabhängigkeit dienen, z. B. wenn jemand beim Einstieg in ein öffentliches Verkehrsmittel auf keine fremde Hilfe angewiesen ist, indem sich vorher über die Barrierefreiheit des Bahnhofes und des Verkehrsmittels informiert wurde. Zum anderen kann Planung auch als Beeinträchtigung von Spontaneität im Alltag gesehen werden, da diese beispielsweise sehr zeitintensiv sein kann und man selbst abhängig von Informationsquellen ist. Dieser Zusatzaufwand durch Planung sowie der Zwang zu großer Flexibilität beeinträchtigen wiederum die soziale Selbstwahrnehmung der Befragten, weil ihnen dadurch aufgezeigt wird, dass sie in ihrer Mobilität nicht immer unabhängig und selbstständig sein können.
„Ich mach da nischt anderet als andere Leute. Also es sei denn, es ist ein fremder Ort […], dann guck ich mir vorher die Gegebenheiten an, ob ich da lang komme oder ob ich da nich langkomme. Ansonsten, so wie jeder andere och.“ (Anne, 41, Rollstuhl)
Aus dem Sondersystem (Sonderschulsystem, Berufsbildungswerke, Behindertenwerkstätten und -wohnheimen, etc.) resultiert für die Interviewten ein eingegrenztes soziales Netzwerk, da sie schon in der Schulzeit kaum Kontakt zu Menschen ohne Behinderungen hatten. Der Übergang aus dem Sonderbildungsweg wird auch dadurch nicht erleichtert, dass die Arbeitsmarktsituation beispielsweise durch den Kündigungsschutz verkompliziert wird. Die Sphären bleiben dadurch weiterhin getrennt, was zum Beispiel durch die Behindertenwerkstätten reproduziert wird. Auch auf dem ersten Arbeitsmarkt kann die soziale Vernetzung mit Kolleg*innen durch fehlende Barrierefreiheit am Arbeitsplatz und dem daraus resultierenden Zwang zum Homeoffice beeinflusst werden.
„[I]ch habe Freunde, die wirklich in so Werkstätten sind und da irgendwie, keine Ahnung, schuften […] was einfach kein Anspruch ist, die haben eine Ausbildung gemacht, die wollen was […] Richtiges machen und nicht irgendwie, keine Ahnung, eine Beschäftigungstherapie oder so.“ (Barbara, 34, Rollator)
Diese Sphärentrennung bestimmt die soziale Selbstwahrnehmung, indem die Behinderung im Vordergrund steht und die jeweilige Person darauf reduziert wird: Obwohl sie sich selbst „normal“ fühlt, wird sie von anderen nicht so wahrgenommen. Ein Phänomen, mit dem sich auch das Konzept des Otherings (De Beauvoir 1997) beschäftigt, welches durch Simone de Beauvoir geprägt wurde. Dieses beschreibt, wie soziale Gruppen Menschen ausschließen, um sich selbst aufzuwerten. Demnach spiegelt der Wunsch „normal zu sein“ das Bedürfnis marginalisierter Gruppen wider, nicht aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden.
„[J]eder sieht zuerst den Rollstuhl und nicht den Menschen, also oft. Ganz oft.“
(Chris, 33, Rollstuhl)
Egal in welchen Lebensbereichen, alltägliche Mobilitätsbarrieren schränken Menschen mit Gehbeeinträchtigungen nicht nur physisch ein, sondern wirken sich auch auf die soziale Vernetzung und die soziale Selbstwahrnehmung aus. Auch wenn physische Barrieren wie Treppen, Stufen, zu schmale Zugänge, das Fehlen von Fahrstühlen und barrierefreien Toiletten ein offensichtliches Hindernis darstellen, können besonders die Ignoranz und Unwissenheit nichtbehinderter Menschen wesentliche Barrieren für Menschen mit Gehbeeinträchtigung darstellen. Diese können wiederum zu einem indirekten Ausschluss aus Teilbereichen der Gesellschaft führen. Zwar entwickeln Personen mit Behinderung vielfältige Bewältigungsstrategien, um bestehende Probleme kompensieren zu können, jedoch sollte – dem sozialen Modell von Behinderung entsprechend – die Verantwortung für die Minimierung von Problemlagen nicht beim Individuum selbst, sondern bei der Gesellschaft liegen.
„Also genau, um nochmal zusammenzufassen: Das Mitleid einerseits, das Arrogante andererseits […] und die fehlende Barrierefreiheit, das sind die drei Punkte, die mich extrem nerven, wenn ich unterwegs bin.“ (Chris, 33, Rollstuhl)
Aus diesem Grund appellieren wir als Forscherinnen insbesondere an die Stadt Potsdam. Wenn sich an den Slogan „EINE Stadt für ALLE“ gehalten werden soll, müssen gleiche Zugangsmöglichkeiten nicht nur in der Theorie und durch Gesetze, sondern auch in der Praxis umgesetzt und dabei die Perspektiven der Menschen berücksichtigt und mit einbezogen werden, die von Mobilitätsbarrieren betroffen sind. Nur so kann eine inklusivere Stadt entstehen.