„Ich wurde gefragt, ob ich bis 10 zählen kann.” – Eine Diplom-Kauffrau über ihre Arbeit mit Behinderung

"Mein jetziger Chef hält große Stücke auf mich, aber als Behinderte hätte er mich damals nicht eingestellt“.

"Mein jetziger Chef hält große Stücke auf mich, aber als Behinderte hätte er mich damals nicht eingestellt“. Sabine Groß* sagt das ganz trocken, sie ist da pragmatisch. Seit ihrer Geburt ist sie Spastikerin – eine Behinderung, die ihre Fähigkeit zu laufen, stark beeinträchtigt – und hat aufgrund eines Unfalls in der Kindheit eine gebrochene Kniescheibe. Sie hat eine Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 90. Als schwerbehindert gilt man ab einem GdB von 50, der Höchstwert beträgt 100. Sabine gehört damit laut Statistischem Bundesamt zu 9,5 % der Menschen mit Schwerbehinderung in Deutschland. Heute ist sie 50 Jahre alt, studierte Diplom-Kauffrau und arbeitet seit über 20 Jahren bei ihrem Arbeitgeber in der Rechnungsprüfung, ist dort gleichzeitig seit letztem Jahr in der Schwerbehindertenvertretung tätig. Eingestellt wurde sie, weil ihr damaliger Chef von der Förderung durch den Staat profitieren wollte, das erklärte er ihr bei der Zusage ganz offen. Sabine war das egal: ihre Qualifikation war gleichwertig zu denen Nichtbehinderter und sie wollte ihrem Beruf nachgehen. „Denkst du, dass du ohne Behinderung bessere Chancen hättest, einen Job zu finden?“, frage ich. Als Antwort bekomme ich ein klares „Ja“. Sie erzählt mir von einem Bewerbungsgespräch vor 20 Jahren, bei dem sie trotz ihres vorliegenden Universitätsdiploms gefragt wurde, ob sie bis 10 zählen könne. „Am Anfang muss man sich immer mehr beweisen als Nichtbehinderte, um die gleiche Anerkennung zu bekommen“, sagt sie. Heute weiß in der Firma jeder, dass Sabine ihren Job sehr gut macht. Trotzdem: Der Leistungsdruck ist höher. Bei der Entscheidung, einen Job anzunehmen, bei dem mit ständiger Diskriminierung und einem nicht-inklusiven Umfeld zu rechnen ist, spielen häufig auch noch weitere Faktoren eine bedeutende Rolle: Neben bürokratischen Hürden beim Empfang von Sozialleistungen besteht auch häufig die Angst vor der „Abschiebung“ in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM). Sabine wollte nie in einer WfbM arbeiten. Die Aufgaben sind meistens händische Routinearbeiten, die zu den Bedürfnissen einiger aber nicht aller Menschen passen. In Deutschland arbeiten mehr als 300.000 Menschen mit Behinderung in diesen Werkstätten, die dort keinen Anspruch auf Mindestlohn haben. Im Durchschnitt bekommen sie dort nur 200 Euro für ihre Arbeit, da diese Form der Beschäftigung nicht als Erwerbsarbeit, sondern als Rehabilitation gilt. Dennoch sollte man diese Einrichtungen nicht komplett „verteufeln“: Sie helfen vielen Menschen eine Tagesstruktur aufzubauen und bieten ein stabiles soziales Umfeld – Sabine hat eine Bekannte, die gern in den Werkstätten arbeitet. Trotzdem kann man die massive Lücke zwischen Mindestlohn und tatsächlicher Bezahlung als einen weiteren Beleg für die fehlende Anerkennung der Leistungen von Menschen mit Beeinträchtigung sehen.

PWD sign on brick wall

Obwohl Sabine seit 20 Jahren gern für ihre Firma arbeitet und ein gutes Verhältnis zu ihren Kolleg:innen hat, wurde sie in all der Zeit nicht befördert. „Meine Aufstiegschancen sind definitiv schlechter”, sagt sie. Einige Kolleg:innen bieten häufig ihre Hilfe an, barrierefrei ist ihr Arbeitsplatz trotzdem nicht. Sie muss drei Treppen hochlaufen, ohne ihre Zustimmung wird ein Schreibtischstuhl gekauft, aus dem sie nur schwer aufstehen kann und bei Feuerübungen wurde jahrelang ignoriert, dass sie dort hunderte Meter laufen muss. Zudem ist Diskriminierung am Arbeitsplatz für sie bis heute ein Thema. Ihre Lieblingsdiskussion: ihr Urlaubsanspruch. Sabine erbringt trotz körperlicher Schmerzen die gleiche Leistung wie ihre nichtbehinderten Kolleg:innen und bekommt per Gesetz fünf Urlaubstage mehr als die anderen. Manche Kolleg:innen können das nicht verstehen. Über die Jahre haben sich schon öfter Leute bei ihr beschwert, dass das ungerecht sei. Sabine schüttelt den Kopf und sagt: „Die können sich gern mal die Treppe herunterstürzen, dann wissen die wenigstens mal, wie es sich anfühlt, eine Behinderung zu haben.“ Ihr Chef hätte sie einmal gebeten auf ihren zusätzlichen Urlaub zu verzichten, um Kosten zu sparen. Er ließ erst von seinem Vorhaben ab, als Sabine ihren Anwalt anrufen wollte. „Ich finde es beschämend, dass ich erst mit Anwalt und Gericht drohen muss, damit ich das bekomme, was mir zusteht“, sagt sie.

Eine Behinderung zu haben, bedeutet für diese Personen, permanent beweisen zu müssen, dass sie trotz anderer Umstände für die eigene Tätigkeit qualifiziert genug sind, dass sie ein Recht haben, dort zu sein. Nicht auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden zu wollen, hat die Folge, dass ihre Leistung auf einem dauerhaften Prüfstand steht. Das reicht für viele Arbeitgeber jedoch nicht aus, um diese Leistung auch ausreichend zu würdigen. Selbst bei Diskriminierungserfahrungen, niedriger Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen möchten viele Beschäftigte ihren Job nicht kündigen – aus Angst, keine neue Arbeit zu finden. Auch Sabine bleibt lieber in ihrer Firma. Ihrem Ehemann, ebenfalls Spastiker, wurde 2015 nach der Einführung des Mindestlohns gekündigt und er hat trotz abgeschlossener Ausbildung und jahrelanger Berufserfahrung keine neue Stelle gefunden. Sabine möchte das Risiko nicht eingehen, zu groß ist die Angst vor dem finanziellen Ruin. Diese Bedenken sind nicht unbegründet. Laut dem Zweiten Teilhabebericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales liegt der Anteil an Grundsicherungsbeziehenden bei Menschen ohne Behinderung bei 5,3 %, mit Behinderung hingegen bei 11,1 %. 20 % dieser Menschen sind einkommensarm, das Risiko von nichtbehinderten Menschen liegt mit 13 % deutlich darunter. Das schlägt sich auch in der subjektiven Wahrnehmung der Personen mit Behinderung nieder: Sie sind unzufriedener mit ihrem Haushaltseinkommen und haben größere Sorgen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation.

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Inklusion kann also nicht funktionieren, solange ein großer Teil von Menschen mit Behinderung am Existenzminimum lebt. Armut bedeutet nicht nur, wenig Geld zur Verfügung stehen zu haben, sondern auch vom sozialen Leben ausgeschlossen zu sein. Diskriminierung ist ein Teilaspekt eines ganzen Systems sozialer Ungleichheit, dem sich Menschen mit Behinderung ausgesetzt sehen. Diesen Menschen fehlen Jobperspektiven, die nicht von mangelnder Qualifikation herrühren, sondern einzig und allein der Tatsache geschuldet sind, dass sie andere Bedürfnisse als Nichtbehinderte besitzen, dass sie anders denken, sich bewegen oder verhalten. Sie können dem nicht entfliehen. Das Verharren in einem Job trotz andauernder Diskriminierung führt häufig zu starker psychischer und physischer Belastung. Die Angst ist jedoch sehr groß, nach einer Kündigung in einem unzureichenden Sozialsystem zu landen und einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt zu sein. Auf die Frage was Inklusion für sie bedeutet, antwortet sie: „Ich möchte einfach wie eine ‚Normale‘ behandelt werden, ohne Bevormundung oder Herabwürdigung.“


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„Ich wurde gefragt, ob ich bis 10 zählen kann.” – Eine Diplom-Kauffrau über ihre Arbeit mit Behinderung
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