"Mein jetziger Chef hält große Stücke auf mich, aber als Behinderte hätte er mich damals nicht eingestellt“.
Obwohl Sabine seit 20 Jahren gern für ihre Firma arbeitet und ein gutes Verhältnis zu ihren Kolleg:innen hat, wurde sie in all der Zeit nicht befördert. „Meine Aufstiegschancen sind definitiv schlechter”, sagt sie. Einige Kolleg:innen bieten häufig ihre Hilfe an, barrierefrei ist ihr Arbeitsplatz trotzdem nicht. Sie muss drei Treppen hochlaufen, ohne ihre Zustimmung wird ein Schreibtischstuhl gekauft, aus dem sie nur schwer aufstehen kann und bei Feuerübungen wurde jahrelang ignoriert, dass sie dort hunderte Meter laufen muss. Zudem ist Diskriminierung am Arbeitsplatz für sie bis heute ein Thema. Ihre Lieblingsdiskussion: ihr Urlaubsanspruch. Sabine erbringt trotz körperlicher Schmerzen die gleiche Leistung wie ihre nichtbehinderten Kolleg:innen und bekommt per Gesetz fünf Urlaubstage mehr als die anderen. Manche Kolleg:innen können das nicht verstehen. Über die Jahre haben sich schon öfter Leute bei ihr beschwert, dass das ungerecht sei. Sabine schüttelt den Kopf und sagt: „Die können sich gern mal die Treppe herunterstürzen, dann wissen die wenigstens mal, wie es sich anfühlt, eine Behinderung zu haben.“ Ihr Chef hätte sie einmal gebeten auf ihren zusätzlichen Urlaub zu verzichten, um Kosten zu sparen. Er ließ erst von seinem Vorhaben ab, als Sabine ihren Anwalt anrufen wollte. „Ich finde es beschämend, dass ich erst mit Anwalt und Gericht drohen muss, damit ich das bekomme, was mir zusteht“, sagt sie.
Eine Behinderung zu haben, bedeutet für diese Personen, permanent beweisen zu müssen, dass sie trotz anderer Umstände für die eigene Tätigkeit qualifiziert genug sind, dass sie ein Recht haben, dort zu sein. Nicht auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden zu wollen, hat die Folge, dass ihre Leistung auf einem dauerhaften Prüfstand steht. Das reicht für viele Arbeitgeber jedoch nicht aus, um diese Leistung auch ausreichend zu würdigen. Selbst bei Diskriminierungserfahrungen, niedriger Bezahlung und schlechten Arbeitsbedingungen möchten viele Beschäftigte ihren Job nicht kündigen – aus Angst, keine neue Arbeit zu finden. Auch Sabine bleibt lieber in ihrer Firma. Ihrem Ehemann, ebenfalls Spastiker, wurde 2015 nach der Einführung des Mindestlohns gekündigt und er hat trotz abgeschlossener Ausbildung und jahrelanger Berufserfahrung keine neue Stelle gefunden. Sabine möchte das Risiko nicht eingehen, zu groß ist die Angst vor dem finanziellen Ruin. Diese Bedenken sind nicht unbegründet. Laut dem Zweiten Teilhabebericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales liegt der Anteil an Grundsicherungsbeziehenden bei Menschen ohne Behinderung bei 5,3 %, mit Behinderung hingegen bei 11,1 %. 20 % dieser Menschen sind einkommensarm, das Risiko von nichtbehinderten Menschen liegt mit 13 % deutlich darunter. Das schlägt sich auch in der subjektiven Wahrnehmung der Personen mit Behinderung nieder: Sie sind unzufriedener mit ihrem Haushaltseinkommen und haben größere Sorgen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation.

Inklusion kann also nicht funktionieren, solange ein großer Teil von Menschen mit Behinderung am Existenzminimum lebt. Armut bedeutet nicht nur, wenig Geld zur Verfügung stehen zu haben, sondern auch vom sozialen Leben ausgeschlossen zu sein. Diskriminierung ist ein Teilaspekt eines ganzen Systems sozialer Ungleichheit, dem sich Menschen mit Behinderung ausgesetzt sehen. Diesen Menschen fehlen Jobperspektiven, die nicht von mangelnder Qualifikation herrühren, sondern einzig und allein der Tatsache geschuldet sind, dass sie andere Bedürfnisse als Nichtbehinderte besitzen, dass sie anders denken, sich bewegen oder verhalten. Sie können dem nicht entfliehen. Das Verharren in einem Job trotz andauernder Diskriminierung führt häufig zu starker psychischer und physischer Belastung. Die Angst ist jedoch sehr groß, nach einer Kündigung in einem unzureichenden Sozialsystem zu landen und einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt zu sein. Auf die Frage was Inklusion für sie bedeutet, antwortet sie: „Ich möchte einfach wie eine ‚Normale‘ behandelt werden, ohne Bevormundung oder Herabwürdigung.“