Neue Entscheidungsdynamiken im Zeitalter von Algorithmen

Seit dem Kontaktverbot vom 22. März 2020 haben digitale Alternativen des ‚Socialising‘ weiter an Attraktivität gewonnen


Seit dem Kontaktverbot vom 22. März 2020 haben digitale Alternativen des ‚Socialising‘ weiter an Attraktivität gewonnen. So verwundert es kaum, dass die Aktivitäten der Dating App Tinder seit den Kontaktbeschränkungen signifikant angestiegen sind. Der WDR berichtet von einer 33 % igen Zunahme der Tinder-Chats in Deutschland. Auch die Anbieter von Online Games können Rekorde verbuchen. Laut der Nachrichtenseite businessinsider hat die Gaming Plattform Steam des US amerikanischen Softwareunternehmens Valve die Marke von 1 Milliarde NutzerInnen (ca. 13 % der Weltbevölkerung) geknackt. Diese und diverse weitere digitale Plattformen bieten die Möglichkeit jene sozialen Aktivitäten zu ‚kompensieren‘, die aufgrund der Kontaktbeschränkungen nicht möglich waren.

Gegen wen ich spiele bzw. wer mir vorgeschlagen wird, geschieht dabei keineswegs zufällig, sondern wird durch nicht-menschliche Akteure (Algorithmen) gesteuert, die im Hintergrund arbeiten. Diese sollen dafür sorgen, dass UserInnen solange wie möglich an eine digitale Plattform gebunden sind. Eine Annahme, nach der die meisten Algorithmen arbeiten, ist, dass gleichstarke SpielerInnen bzw. gleichgesinnte und gleichbeliebte Menschen optimale Matches sind. Diese Gleichheit zu ermitteln, ist nicht trivial. Um diese zu ermitteln wird meistens ein Score verwendet.

Innerhalb von Online Games hat sich beispielsweise ein Scoring System etabliert, welches seinen Ursprung im Schachsport hat und auf dem sog. ELO Score beruht. Dessen Funktionsweise ist relativ simpel: Je größer die Punktzahl meines Gegners, desto mehr Punkte bringt ein Sieg. Umgekehrt gilt: Je weniger Punkte mein Gegner hat, desto mehr Punkte würde ich im Falle einer Niederlage verlieren. Verantwortlich für diesen Effekt ist die berücksichtigte Gewinnwahrscheinlichkeit in der ELO Formel. Die Gewinnwahrscheinlichkeit hängt von der relativen Stärke des Gegners (der Score Differenz ab) und wird wie folgt berechnet:


Betrachtet man den entsprechenden Funktionsgraphen, wird der typische Verlauf einer logistischen Funktion deutlich:


 
Wie dem Funktionsgraphen in der Abbildung zu entnehmen ist, steigt und fällt die Gewinnwahrscheinlichkeit mit der der Scoring Differenz.  Gleichzeitig wird deutlich, dass es ab einer bestimmten Differenz kaum noch Änderungen hinsichtlich der Gewinnwahrscheinlichkeit gibt (Sättigungseffekt einer logistischen Funktion). Grob vereinfacht wird damit gewährleistet, dass die Score Spanne überschaubar bleibt.

Abhängig vom Ausgang der Partie und der rechnerischen Gewinnwahrscheinlichkeit, werden beiden Spielern nach einer beendeten Partie Punkte zugeschrieben bzw. abgezogen. Die Punkte für den Fall eines Sieges fallen mit steigender Gewinnwahrscheinlichkeit und steigen mit fallender Gewinnwahrscheinlichkeit. Dies liegt daran, dass die maximal möglichen Punkte (abhängig von der Sportart) mit der Gegenwahrscheinlichkeit (1 - Gewinnwahrscheinlichkeit) multipliziert werden.  Daraus ergibt sich folgende Optimierungslogik: man sollte gegen gut gerankte Spieler gewinnen und es auf jeden Fall vermeiden, gegen schlechter gerankte Spieler zu verlieren. In manchen, sowohl digitalen als auch analogen, Communities führt dies mittlerweile dazu, dass Spieler ihre Turnierteilnahme in Abhängigkeit von den Score Optimierungschancen treffen!

Analog zu den Sport- und Online-Gaming Communities, in denen das Scoring dafür sorgt, dass vorwiegend gleichstarke Spieler gegeneinander antreten, schlagen die Matching Algorithmen von Dating Apps häufig gleichgerankte UserInnen vor, was dafür sorgt, dass einem zu niedrig bzw. zu hoch gerankte UserInnen gar nicht erst vorgeschlagen werden. Hierbei stellt sich natürlich die Frage, welche Faktoren den Score beeinflussen. Tinder spricht in diesem Zusammenhang vom ‚Desirability Score‘. Gemessen wird diese Beliebtheit durch das Verhältnis von erhaltenen und verteilten Likes. Immer nur ‚Liken‘ und nur wenig Likes bekommen, ist schlecht für den Score. Ein Like bekommen ist also wie ein Sieg. Und am meisten Punkte gibt es bei einem ‚Sieg‘ gegen jemanden, der selbst einen hohen Score besitzt (vgl. ARTE-Beitrag). Die meisten Tinder UserInnen werden sich nicht bewusst mit diesem Score auseinandersetzen, geschweige denn den Ratschlägen eines Tinder Coaches folgen um den eigenen Score aufzuwerten. Letztendlich beeinflusst man damit jedoch schon direkt seinen eigenen Score und als Konsequenz welche Profile man vorgeschlagen bekommt. Tinder passt seinen Matching Algorithmus stetig an. In einem offiziellen Statement vom 15. März 2019 erklärt Tinder, dass der ELO Score nicht mehr benötigt wird. Darüber, ob ein anderes Scoring Verfahren eingesetzt wird, äußerte sich Tinder nicht. Tinder Coaches der Tinder-Academy sind jedoch davon überzeugt, dass auch weiterhin ein Score zentraler Bestandteil des Matching Algorithmus ist.

Scoring findet auch in vielen anderen Bereichen statt. Kfz- und Krankenversicherungen werben seit einigen Jahren mit sogenannten Telematik-Tarifen. Sofern man sein Fahrverhalten bzw. Lebensstil ‚tracken‘ lässt, kann man bei der jeweiligen Versicherung sparen. Vorausgesetzt natürlich, dass dem Versicherungsunternehmen der Fahr- bzw. Lebensstil passt!

In diesem kurzen Beitrag habe ich nur eine kleine Auswahl von Algorithmen bzw. Scoring Systemen angerissen. Scoring-Verfahren, die auf Systemen maschinellen Lernens, insbesondere neuronalen Netzen aufbauen, sind in ihrer Komplexität wesentlich umfangreicher als der ELO Score. Im Gegensatz zum ELO Score, dessen technische Details zumindest in der Sport Community bei entsprechendem Interesse nachvollzogen werden können, werden die Algorithmen höherer Komplexität von den Unternehmen größtenteils geheim gehalten. Der Durchschnittsverbraucher hat kaum eine Chance nachzuvollziehen, auf welcher Grundlage ein ihn betreffender Score zustande gekommen ist.


 
Ein kleiner Lichtblick innerhalb einer zunehmend durch intransparente Algorithmen geprägten Gesellschaft sind Institutionen, die z.B. die Entwicklungen des Social Credit Systems (SCR) in China kritisch beobachten und auch deutsche Unternehmen ins Visier nehmen. Wichtige Aufklärungsarbeit leistet z.B. das Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft. AlgorithmWatch und die Open Knowledge Foundation setzen sich ebenfalls für mehr Transparenz von algorithmischen Entscheidungssystemen ein. Ein Beispiel ist das ‚OpenSCHUFA‘ Projekt, in welchem versucht wird, Licht in das Dunkel des Bonitätsscore der Schufa zu bringen. Leider handelt die deutsche Politik bislang nicht. Alles was auf politischer Ebene trotz der alarmierenden Erkenntnisse verschiedener Studie passierte, war eine Aufforderung der damaligen Bundesverbraucherschutzministerin zu mehr Transparenz. Ich beende meinen Beitrag mit Fragen, die ich mir bei meiner Recherche immer wieder gestellt habe.
  •   Ist der Trend einer zunehmend gescoreten Gesellschaft aufzuhalten?
  •   Welche Gesellschaftsbereiche sollte man auf jeden Fall vor Scoring Systemen schützen?
  •   Wie gut bilden Scoring Systeme die Realität ab?

Arvid Becker
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Alexander Lenk,1,Aline Lupa / Isabella Kaul,1,Alltagsleben,1,Andreas Hofmann / Anna Westner / Marius Gerards,1,Angelika Wetzel,1,Angelika Wetzel / Serafina Löber,1,Anh Hoang,1,Anh Hoang / Christopher Fritz / Annina Morr,1,Anna Haar / Isabel Buchmann,1,Anna Haar / Maj-Britt Klages / Corinna Weiß,1,Anna Westner,1,Anne Haußner / Nele Damm / Laura Milda Weinheimer,1,Anne Haußner / Nele Damm / Melisa Meral,1,Annett Wadewitz,2,Antonia Leymann / Hannes Richter,1,Arvid Becker,1,Bundestagswahl 2021,3,Carolin Haselmann / Luise Graw / Julius Spreckelsen,1,Christopher Fritz / Carla van der Minde / Simeon Raban Dilßner,1,Claudia Buder,1,Claudia Buder / Annett Wadewitz,2,Daphne Kabaali,1,Denise Brosda,1,DX,1,Felicitas Rösch,1,Finja Carstensen / Julia Gräfe / Victorie Henning,1,Florian Fried,2,Franziska Mehlhase,1,Gerrit Prange,1,Helene Walther / Adrian Nehls,3,Ina-Berit Leuchs,2,Inge Pabel,1,Isabel Buchmann,1,Jeanne Handro,1,Johanna Kuchling-Pietrek,1,Joshua Bode / Lukas Zipris /Vanessa Oestert,1,Julia Zakusek / Chiara Osorio Krauter / Emily Quirmbach,1,Katarina Rönnicke,1,Kati Renard,1,Kevin Hanelt,1,Klara Hofmann,1,Kolja Grohmann,1,Lea Gudowski / Carla von der Minde / Niklas Kohl,1,Leandra Wagner,1,Lena Mau,1,Lennart Bugoslawski / Friederike Zimmermann,1,Lewin Fricke,1,Lisa Fritsch,1,Lucas Krentel,1,Luise Graw / Lea Gudowski / Niklas Kohl,1,Luise Graw / Niklas Kohl,1,Maj-Britt Klages / Marcel Maier / Melisa Meral,1,Marie Lauterbach,1,Marlene Jahn,1,Miriam Pospiech / Carolin Engelhardt / Aline Lupa / Isabella Kaul,1,Miriam Pospiech / Isabella Kaul,1,Naomi Gänsler,1,Nele Stärke / Lea Steinkopf,1,Nina Magdeburg,1,Noa Groicher,2,Phila Händler,1,Philipp Mandt,1,Rainer Niemann / Johannes Koberstein,1,RM,1,Roland Verwiebe,1,Seminargruppe 2020/21,1,Serafina Löber,1,Serafina Löber / Franziska Mehlhase / Angelika Wetzel,1,Simon Kuntze,1,Siri Handloegten,1,Siri Handloegten / Moritz Niessen,1,Tim Page,1,xAdrian Nehls,3,xAlexander Lenk,1,xAline Lupa,2,xAlltagsleben,22,xAmazon,3,xAndreas Hofmann,1,xAngelika Wetzel,3,xAnh Hoang,2,xAnna Haar,2,xAnna Westner,2,xAnne Haußner,2,xAnnett Wadewitz,5,xAnnina Morr,1,xAntonia Leymann,1,xArbeit,13,xArvid Becker,1,xAudio,4,xBildung und Kultur,12,xCarla van der Minde,2,xCarolin Engelhardt,1,xCarolin Haselmann,1,xChiara Osorio Krauter,1,xChristopher Fritz,1,xClaudia Buder,4,xCorinna Weiß,1,xDaphne Kabaali,1,xDenise Brosda,1,xDigitalisierung,22,xDX,1,xEmily Quirmbach,1,xFelicitas Rösch,1,xFinja Carstensen,1,xFlorian Fried,2,xFranziska Mehlhase,2,xFriederike Zimmermann,1,xGerrit Prange,1,xHannes Richter,1,xHelene Walther,3,xIna-Berit Leuchs,2,xInge Pabel,1,xIsabel Buchmann,2,xIsabella Kaul,3,xJacob Gustavs,1,xJeanne Handro,1,xJohanna Kuchling-Pietrek,1,xJohannes Koberstein,1,xJoshua Bode,1,xJulia Gräfe,1,xJulia Zakusek,1,xJulius Spreckelsen,1,xKatarina Rönnicke,1,xKati Renard,1,xKevin Hanelt,1,xKlara Hofmann,1,xKolja Grohmann,1,xLaura Milda Weinheimer,1,xLea Gudowski,2,xLea Steinkopf,1,xLeandra Wagner,1,xLehrforschung 2020,2,xLena Mau,1,xLennart Bugoslawski,1,xLewin Fricke,1,xLisa Fritsch,1,xLucas Krentel,1,xLuise Graw,3,xLukas Zipris,1,xLuna Schlender,1,xMaj-Britt Klages,2,xMarcel Maier,1,xMarie Lauterbach,1,xMarius Gerards,1,xMarlene Jahn,1,xMelisa Meral,2,xMiriam Pospiech,2,xMoritz Niessen,1,xNaomi Gänsler,1,xNele Damm,2,xNele Stärke,1,xNiklas Kohl,3,xNina Magdeburg,1,xNoa Groicher,2,xPhila Hädler,1,xPhilipp Mandt,1,xPolitik,14,xRainer Niemann,1,xRenteneintritt,2,xRM,1,xRoland Verwiebe,2,xSamuel Debbas,1,xSerafina Löber,3,xSimeon Raban Dilßner,1,xSimon Kuntze,1,xSiri Handloegten,2,xSteffen Hagemann,1,xTim Page,1,xVanessa Oestert,1,xVictorie Henning,1,xVideo,1,xWahlen21,3,
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Neue Entscheidungsdynamiken im Zeitalter von Algorithmen
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